Atlantikübersegelung – zwei Landratten auf Abwegen

 

15.05 2019

Vor vier Tagen sind wir los gesegelt. Nachdem wir die verkackte Simpson Bay hinter uns gelassen haben, springt die gesamte Crew über Bord und genießt ein letztes erfrischendes Bad bevor die Segel gesetzt werden. Die Wellen sind ca 1,5 m hoch und das Boot schaukelt in erträglichem Maße. Allen geht es seekrankheitstechnisch gut, Fede kann sogar im Bauch des Schiffes kochen. Doch das Abendessen findet nach Einbruch der Dämmerung statt, weshalb wir das Decklicht einschalten müssen. Durch das Decklicht verschwindet der Horizont und innerhalb von zehn Sekunden wird mir übel. Portside (also backbord, also links am Boot in Fahrtrichtung) kann ich unter voller Konzentration einen kurzen Streifen des Horizonts finden wo schwarzes Meer und schwarzer Himmel in der Ferne aufeinander treffen. Sobald ich meine Augen von dieser vagen Linie abwende, um die von Fede zubereitete Pasta aufzugeben, überkommt mich eine gewisse Lust, die soeben geschluckte Pasta mit Würgegeräuschen ins Meer zu befördern. Nach dem Essen wird es besonders schlimm und ich knie mich schon an der Reling in Erwartung der aufsteigenden Kotze. Diese entscheidet sich aber doch, unten zu bleiben. Woraufhin ich schnell eine Anti-seasickness Pille nehme und mich an Deck horizontalisiere. Während Fede über die Reling kotzt, sehen auch die anderen Crewmitglieder recht grün aus. Aber bevor wir uns versehen, ist diese Nacht auch schon um und ein neuer Tag beginnt.

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Hard Core Provisioning

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Die Längste Rechnung, die ich jemals gesehen habe!

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Boot geputzt,…

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…Orangen und co. verstaut,…

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…Crew bereit,….

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…und los gehts!

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Am nächsten Tag zeigen die Bemühungen unserer zwei begeisterten Fischer Tom und Han endlich Erfolg: sie fangen eine drei Kilogramm schwere Dorade. Diese wird mit Alkohol in die Kiemen so kurz und schmerzlos wie möglich getötet und gleich darauf mit Genuss verspeist.

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Han, der stolze Fischer

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Die nächsten Tage lassen sich etwa so zusammen fassen: Viel entspannte Zeit, viel zu viel Sonne, Wind von schräg hinten (downwind sailing), relativ geringer Seegang, lesen, plaudern und chillen.

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Heute, Tag 5, der Himmel ist seit in der Früh bedeckt, was ich prinzipiell sehr angenehm finde. Endlich wird mein Hirn einmal nicht gekocht, sobald ich mich auf das Deck bewege. Bald beginnt es jedoch zu regnen und der Wind dreht sich in alle möglichen und unmöglichen Richtungen weshalb die Segel mehrmals umgebaut werden müssen, was die gesamte Crew zwingt, im Regen zu arbeiten. Fede und ich verstehen leider überhaupt nicht, was abgeht und ich fühle mich etwas deplatziert, weil ich nicht wirklich helfen kann. In dem ganzen Trubel landet plötzlich ein winziger gelber Vogel auf unserem Boot. Woher dieses Geschöpf kommt, ist mir völlig schleierhaft, befinden wir uns doch hunderte Kilometer von jeglicher Küste entfernt. Zuerst dreht das süß kleine Ding ein paar Runden um unser Boot, bevor es beschließt, zumindest für eine kurze Rast bei uns zu bleiben. Der Anblick dieses winzigen, verletzlichen Wesens in der Mitte der scheinbar unendlichen Weite des Atlantischen Ozeans rührt mich zu Tränen. Doch schon bald scheint sich das Vögelchen bei uns wohlzufühlen, erkundet die Kombüse, frisst die von Fede vorbereiteten Brotkrümel und landet sogar einmal auf Manons Kopf. Ich nenne den Kleinen Honey, schließlich ist er gelb und sehr süß. Am Abend zwitschert er uns einen guten Nacht Gruß und das ist das Letzte, was wir von unserem blinden Passagier hören oder sehen.

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Die Sucht ist ein Schwein…

Tags darauf erbeuten die Burschen einen ein Meter langen Mahu. Captain Joost verzweifelt schon ein bisschen, weil es nie sein geliebtes Fleisch gibt.

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Der Blick aus der Koje lässt eine gewisse Schräglage erahnen.

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Das unbeständige, regnerische und windarme Wetter hält an und wir tuckern unter Motorunterstützung weiter Richtung Nordosten. Zur Abenddämmerung, ich habe gerade Watch, ist es wieder einmal besonders nebelig und ungemütlich feucht. Wie von Jost generell für jede Watch angeordnet, führe ich alle 10 Minuten einen 360° Rundumblick durch, um sich nähernde Schiffe frühzeitig zu entdecken. Zum Glück leistet mir Han Gesellschaft denn keine zwei Minuten nach Ende meines Rundgangs entdeckt er ein riesiges Containerschiff, das plötzlich als grauer Schatten aus dem Nebel hervortritt wie die Black Pearl aus «Der Fluch der Karibik». Es ist so nah, dass man sogar die einzelnen Container unterscheiden kann und steuert lautlos genau auf uns zu. Voller Kollisionskurs. Eine Kommunikation mit der «Agnes Victoria» ist zumindest per Funk nicht herzustellen. In diesem Moment stelle ich fest, dass auch unser Horn nicht funktioniert. Sehr beruhigend. Glücklicherweise sieht oder bemerkt uns irgendjemand auf dem Containerschiff und ändert den Kurs, sodass die Agnes Victoria in etwa 400 Metern Entfernung an uns vorbei gleitet und genauso lautlos im Nebel verschwindet, wie sie zuvor erschienen war. Wie unwahrscheinlich ist bitte eine Kollision im Nebel mitten im Atlantik? Nicht ganz so unwahrscheinlich, wie man meinen könnte. Die Watches haben also durchaus Sinn und Berechtigung.

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Agnes Victoria auf vollem Kollisionskurs…

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…und deutlich näher als uns lieb ist.

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Han und Tom, aka «the boys», sind in einer Fishing Francy: der Mahu ist noch nicht ganz verspeist, schon fangen Sie einen dicken, fetten, rotfleischigen Tuna. Dieser lässt sich nicht so einfach betäuben wie die Dorade, die auf einen Schluck Wodka in die Kiemen sofort K.O. war. Zuerst sieht es so aus, als ob der Wodka seine Wirkung erzielen würde, doch plötzlich beginnt der kräftige Fisch heftig zu zappeln, wobei ein furchtbares Blutbad an Deck entsteht. Han ist nicht davon überzeugt, dass das Tier schon tot ist und knallt dem Fisch noch ein paar Mal kräftig mit der Winschkurbel auf den Schädel. Im Nachhinein glaube ich, dass es sich bei dem sehr heftigen zappeln um einen Grand Mal Anfall gehandelt hat. Bei Menschen (auch bei nicht-Epileptikern) kann ein solcher durch zerebrale Hypoxie ausgelöst werden – ich vermute, dieser Zusammenhang besteht auch bei Fischen. Hoffentlich, denn bei einem Grand Mal Anfall ist man zu tiefst bewusstlos und bekommt theoretisch nicht mit, dass man gerade qualvoll erstickt. Jedes Mal wenn ich sehe, wie ein Tier zum Zwecke der Nahrungsbeschaffung getötet wird, denke ich, dass ich irgendwann Vegetarierin werde, weil ich dieses Leiden eigentlich nicht verursachen will. Aber irgendwie verblassen solche Bilder und Gedanken nach einer gewissen Zeit wieder. Direkt nach dem Fang macht sich Fede daran, das Tier zu zerlegen und schneidet uns hauchdünne Sashimi Scheibchen, die wir direkt an Deck mit Sojasauce verspeisen. Leider köstlich. So traumatisierend war der Todeskampf dann also wohl doch nicht.

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Zwischen dem gelben Vögelchen und dem eindrucksvollen Tuna-Todeskampf hatten wir zwei Tage regnerisches Wetter mit viel Nebel und gelegentlichen Squalls. Squalls sind plötzlich auftretende, kurze aber heftige Regengüsse begleitet von starkem Wind, der seine Richtung unvorhersagbar und häufig ändert. Als das regnerische Wetter bereits eingesetzt hatte, lagen Fede und ich ruhig schlafend im Bett. Wir hatten den Tag zuvor kaum nennenswerten Wellengang gehabt und waren vom Boot sanft in den Schlaf gewiegt worden. Plötzlich neigt sich das Boot leicht zur Backbordseite und ich suche mir eine neue Schlafposition, mit dem Rücken an der Backbord Wand abgestützt – schließlich sind latente Bewegungen für ein Segelboot ja keine Besonderheit. Nach zwei Sekunden wird aus der leichten eine massive Schräglage Richtung Backbord, woraufhin Fede, der sich zu diesem Zeitpunkt an der Steuerbordseite unserer Koje befindet, ins Rollen gerät und mich nach zwei vollen Umdrehungen zwischen der backbordseitigen Wand unserer Koje und seinem Körper einklemmt. Ohne Vorwarnung aus dem wiegenartigen Schaukeln unseres Bootes durch eine gefühlte 45° Schräglage geweckt zu werden, kommt mir schon etwas verdächtig vor aber Fede scheint durch dieses Manöver nicht einmal aufgewacht zu sein. Als sich wenige Sekunden später das Boot ruckartig zur anderen Seite lehnt, Fede zurück über das Bett rollt und an der Steuerbordseite unserer Koje aufprallt, wacht selbst dieser Tiefschläfer auf. Ich bin etwas beunruhigt ob der plötzlichen Änderung unserer Gangart und als ich ein Glas zu Bruch gehen höre, beschließe ich, nach dem Rechten zu sehen. Im Bauch des Schiffes herrscht völliges Chaos: Glasscherben liegen am Boden neben halben Krautköpfen und Nescafé Schalen, alle sind halbnackt und niemand weiß so recht, was abgeht. Draußen schüttet es, Manon und Tom versuchen am Steuerrad, die Kontrolle über das Schiff zu behalten bzw. wieder zu erlangen. Während ich versuche, das Chaos im Inneren des Bootes unter Kontrolle zu bringen, spaziert unser verschlafener Captain in Unterhosen zum Steuerrad. Bis er dort ankommt, ist er vollkommen durchnässt. Er greift sich das Steuerrad und trällert fröhlich: «I’m singing in the rain…»

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Die Winde sind jetzt schwächer. Mit der letzten Kraft des Windes lassen wir uns ostwärts treiben. Zu weit, entscheidet der Captain und schaltet den Motor ein. Jetzt geht es weiter Richtung Norden auf der Suche nach Wind und auf der Flucht vor dem Azorenhoch.

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23.5 2019

Als wir zirka sieben Tage unterwegs sind und angenehmes Segeln bei jedoch moderater Geschwindigkeit genießen, wird der Wind plötzlich weniger. Zuerst segeln wir noch mit Motorunterstützung dann motoren wir mit Segelunterstützung und schließlich flappen die Segel nur noch schlaff hin und her während unser einziger Antrieb vom Motor kommt. Die See hatte sich in den letzten Tagen etwas beruhigt. Zwar spürte man immer noch die langen, flachen Wellenberge der Dünung aber das Boot bewegt sich lediglich in einem gemütlichen Schaukeln und man kann sich frei über das Boot bewegen ohne fürchten zu müssen, dass man dabei von einer brüsken Bewegung desselben über Bord oder in die nächste Kante geschleudert werden würde. Die Sonne scheint, es ist heiß und das permanente Brummen des Motors, der gegen unendlich blaue Wassermassen ankämpft, lullte unsere Gehirne ein.

Der Captain verlangt permanent nach Fleisch. Gibt es einmal einen Tag lang kein Fleisch, wird gleich gemeckert. Also mache ich «Austrian Burgers» (faschierte Loabal) um a.) die ekelhaften Berge von in seinem eigenen Blut schwimmenden Faschiertem zu dezimieren und b.) den sudernden Captain zu beschwichtigen und c.) in Gegenleistung eine Badepause verlangen zu können. Aus unklaren Gründen hat sich unsere Fortbewegungsgeschwindigkeit von 5 auf zirka 3 Knoten reduziert. Joost dreht den Motor ab, wirft eine Leine aus und die gesamte Crew springt ins ultramarinblaue Nass. Bei einem Blick zur Schraube wird sofort klar, was das Problem ist: das an der Oberfläche treibende Seegras hat sich wie ein dicker Winterschal um die Schraube gewickelt und verhindert eine effiziente Fortbewegung. Wir tauchen unter das Boot und können die Schraube zügig von ihrem Seegrasschal befreien. Danach folgt purer Genuss. Das Wasser hat eine angenehme Temperatur und seine Tiefe und Weite lädt zum Träumen ein. Mit der Maske halte ich nach größeren oder kleineren Tierchen Ausschau aber außer den an der Oberfläche treibenden Seegrasbüschel ist absolut nichts zu sehen. Nur unendliches, magisches Blau. Nachdem wir uns ausgetobt haben wie kleine Kinder, krabbeln wir wieder an Bord und trocknen uns ab. Joost scheint keine Ambitionen zu haben, den Motor wieder einzuschalten. Und auch die Crew ist froh, von dem tiefen, Leber-erschütternden Brummen für eine Zeit lang befreit zu sein. Insbesondere gilt das auch für Fede und mich, ist unsere Koje doch nur durch eine dünne Holzklappe direkt am Kopfende unseres Bettes vom Maschinenraum getrennt. Wir schlafen also wahrlich am bzw. im Motor. Nachdem alle wieder an Bord sind und auch der Captain sich ein kleines Bad gegönnt hat, beginn sich im Cockpit der White Cliffs eine gewisse Feierabendstimmung breit zu machen: Chips, Bier und sogar für mich ein winzig kleiner Tequila mit Limette. Mit den Trinkgewohnheiten unseres Captains und unseres ersten Mates kann ich jedoch nicht mithalten. Zwischendurch genießen wir die magische Ruhe, (vor dem Sturm?) Und die surreale Situation der Einsamkeit in der Mitte dieses riesigen Ozeans. Plötzlich, in dieser Ruhe springt Han auf und fuchtelt hektisch mit seinen Händen durch die Luft «Dort! Nahe! Groß!» schreit er. Alle Köpfe nach Backbord. Stille. Und wenige Sekunden später taucht die Dorsalfinne eines Wales keine hundert Meter entfernt von uns aus dem Wasser. Mit Uuuuuuhs & Ooooooh’s verfolgen wir den sanften Riesen einen Teil seiner unendlich langen Reise bevor er nach einem letzten Atemzug wieder in das tiefe Blau abtaucht und sich unseren neugierigen Blicken entzieht.

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Love is in the air…

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In der Nacht segelen wir wieder ein bisschen aber am nächsten Morgen flappen unsere Segel neuerlich schlaff hin und her.

Am Nachmittag gönnen wir uns ein neuerliches Bad im größten Swimmingpool der Welt, wobei sich Tom, Fede und ich eine Schlacht im kreativen Absprungsarten liefern. Manon und ich genießen die relative Privatsphäre am Frontdeck, wo wir auf Spanisch, also in einer Sprache, die außer uns nur Fede versteht, Gespräche unter Mädchen führen. Sie gesteht mir, was ich schon seit mehreren Tagen vermute: Sie hat eine kleine Romanze mit Tom, unserem Amiboy am laufen. Bei unserem nächsten Treffen am Frontdeck berichtet Manon mit großen Augen, dass Tom Ihre Einladung, die Nacht in ihrer Koje zu verbringen abgelehnt habe und zwar mit der Erklärung, dass er aufgrund seiner religiösen Überzeugungen keinen Sex vor der Ehe haben möchte. Und das mit 23 Jahren. «What a bummer.» und mein voller Respekt zugleich.

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«Open Water Survivial Training» 

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Fazit: Ja, bei ruhiger See, Fortbewegungsgeschwindigkeit nahe Null und halbwegser Fitness kann man sich auf eine Sun Odysee 45 hinaufwurschteln auch wenn die Leiter nicht ausgeklappt ist…

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…aber einfach ist es nicht.

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Windstärke 0-1, Tequila 40%, Feierabendststimmung 100%

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Die Standartposition unserer zwei Fischer, in der sie stundenlang und mitunter durchaus hitzig über Material und Zusammensetzung von Ködern, idealer Farbgebung von Schwimmer für das Hochseeangeln, die amerikanische Politik in Cuba, die russische Politik in der Ukraine, die Ölkriese der 80er Jahre oder ähnliche bildungsbürgerliche Themen diskutieren, verhandeln und lachen.

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24.5 2019
Nach einiger Zeit können wir wieder gemütlich dahin segeln und ich werde eines Abends angenehm in den Schlaf gewiegt. Plötzlich und mitten in der Nacht vollzieht das Brot wieder eine ruckartige Kippung. Fede springt wie von der Tarantel gestochen auf und begibt sich ins Cockpit. Einige scharfe Kommandos von Joost und schon stehen wir wieder halbwegs gerade. Das hatten wir doch bereits einmal, denke ich und will mich schon wieder dem Schlaf hingeben, als sich das Boot plötzlich noch einmal schräg stellt. Nun kann ich auch hören, dass der Wind viel stärker ist. Ich höre ein Segel wild und unkontrolliert im Wind herumpeitschen. Die gesamte Crew ist jetzt auf den Beinen. Es schüttet in Strömen. Irgendwie hört sich das Ganze nicht nach einer kontrollierten Situation an. Ich bekomme Angst. Angst, weil ich nicht weiß weiß, was los ist. Angst, dass ich nicht helfen kann. Angst, dass ich bei dem hektischen Betrieb im Cockpit im Weg bin oder gar etwas falsch mache. Also bleibe ich in unserer Kammer, beobachte aber das Treiben im Cockpit durch unsere Luke mit Argusaugen. Plötzlich höre ich einen ohrenbetäubenden Knall. Ich weiß zwar nicht, woher es kommt, aber ich weiß, dass es kein normales Geräusch ist. Ich fühle mich hilflos und auch irgendwie nutzlos in meiner Kammer. Allzu gerne würde ich in dieser offenbar brenzligen Situation mithelfen, nützlich sein, aber dazu fehlt mir das Know-how und im Moment auch der Mut. Plötzlich höre ich einen neuerlichen Knall und dann noch einen, eine ganze Serie wie aus einem Maschinengewehr geschossen. Oh-oh. Das Herz rutscht mir in die Hose. Vor unserer Koje finde ich Tom, den amerikanischen Virgin-Lover, unseren ersten Maat. «Weißt du was kaputt ist?» frage ich ihn direkt. «Ich glaube der Boom.» sagt er und stürmt wieder nach oben. Wow, das ist so ziemlich eine der schlechtesten Antworten die er mir hätte geben können. [Vielleicht auf Position vier nach 1.) Wir sinken 2.) Wir stehen im Brand und 3.) Der Mast ist abgebrochen] als ich endlich wage, einen Blick nach oben in das Cockpit zu werfen, bietet sich mir ein (für meine Landrattenaugen) desaströser Anblick: unser Vorsegel, das Genoa, hat sich nicht ganz raffen lassen und flappt in Streifen gerissen von dem Drahtseil, um welches es hätte aufgewickelt werden sollen. Es scheint rein von der Größe der Fetzen her wahrscheinlicher, dieses Segel zukünftig als Geschirrtuch zu verwenden denn als Motor für unsere Fortbewegung. Joost steht im Regen auf der Stiege, die den Bauch des Bootes mit dem Cockpit verbindet. Wind bläst ihm den Regen in den Rücken während das offene Fenster des Windschutzes in unregelmäßigen Abständen in sein Gesicht klatscht. Unter diesen Umständen versucht unser Captain, ruhig und wortlos, die Führungsschiene zu reparieren, welche die Leinen hält, die die Bewegung des Booms limitieren. Die Führungsschiene selbst ist zwar noch in situ, den beweglichen Teil hat die Kraft des plötzlich einsetzenden Windes aber schlicht ausgerissen. Da ich sonst nichts tun kann, bemühe ich mich wenigstens, dem Captain das flappende Plastikfenster des Windschutzes aus dem Gesicht zu halten. Die Reparatur mit Seilen sieht für mich sehr provisorisch aus – aber was weiß ich schon. Nachdem das Hauptsegel massiv gereeft, also verkleinert, wird und wir die Hoffnung auf die Rettung des Genoas aufgeben, scheint sich die Situation etwas zu stabilisieren. Der Regen prasselt immer noch unnachlässig und es weht jetzt ein scharfer, kalter Wind. Wir bekommen Instruktionen für den weiteren Kurs und dass wir das provisorisch reparierte Teile im Auge behalten sollen. Ich bin etwas nervös da jetzt Fedes Watch beginnt (2:00 bis 4:00 Uhr) und direkt danach meine Watch (4:00 bis 6:00 Uhr) und ich nicht das Gefühl habe, in einer neuerlichen kritischen Situation eine adäquate First-Responderin zu sein. Aber was soll’s. Als ich diesen Gedanken zu Ende denke, haben sich alle anderen schon erschöpft in ihre Betten zurückgezogen, sodass nur Fede und ich übrig bleiben. Wir beschließen, uns jeweils gegenseitig in der Watch zu unterstützen. Eine gute Entscheidung, wie sich schnell herausstellen sollte. Unsere Regenkleidung, insbesondere meine Regenhose, ist diesen extremen Bedingungen nach langjähriger Verwendung nicht mehr gewachsen. Aufgrund des starken und potenziell rasch drehenden Windes muss immer einer von uns beiden direkt am Steuerrad sitzen, dem Wind, dem Regen und der Gischt ausgesetzt. Wir wechseln uns alle 15 bis 20 Minuten ab während der jeweils andere im windgeschützten Stiegenhaus hockt. Diese vier Stunden vergehen ziemlich langsam und verdammt unkomfortabel. Um 6 Uhr wecke ich Han auf, der nach uns Dienst hat und falle nach einer praktisch durchgemachten Nacht erschöpft ins Bett. Als ich erwache, bin ich schon wieder dran mit Watch aber kein bisschen mehr erholt als in den frühen Morgenstunden. Als ich einen Blick nach draußen werfen, kann ich meinen Augen kaum trauen: wir bewegen uns über gigantische, vier bis fünf, gelegentlich auch sechs bis sieben Meter hohe Wellenberge. Und wir machen wahnsinnigen Speed «We are creaming!» Wie unser Amiboy in Anspielung auf den vielen von uns produzierten Schaum mit Freude ausruft. Die große Anzahl an spanischen (oder portugiesischen?) Galeeren die ich seit mehreren Tagen im Wasser beobachte, hält an. Mit ihren durchsichtigen, Gas gefüllten Segel sehen die Quallen zwar aus wie kleine Plastiksackerl, mit den bis zu 60 Meter langen giftigen Tentakel entfalten sie jedoch tödliche Wirkung. Auf Fische jedenfalls und angeblich auch auf Menschen wenn diese am Brustkorb getroffen und dadurch deren Atemmuskulatur gelähmt wird.

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«Endlich richtig segeln!» freut sich unser Captain; ich hingegen hab mich bei Windstärke 3-4 wohler gefühlt…

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«We are creaming!»

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Küchenarbeit ist ohne Brustgeschirr bei diesem Wellengang schlicht unmöglich.

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In der letzten Woche zeichnet sich langsam eine gewisse Erschöpfung ab. Fede präsentiert hier eine schaukelsichere Schlafposition quer zur Fahrtrichtung und mit allen Extremitäten stabilisatorenartig abgespreizt…

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Highlight des Tages: Wir werden überholt.

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Spanische mini Galeere an Bord gespült…

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Körperpflege an Bord.

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«The Boys»

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«LAAAAAAAAAAND IN SIGHT!»

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2.6.2019

Der letzte Tag. Sonne. Leichter Wind. Gute Laune. Wir zählen uns Geschichten über Kotze und lachen dabei wie kleine Kinder. Die ersten zwei Wochen (Sommer, Sonne, und Gelächter) sind definitiv nicht mit den letzten Wochen vergleichbar, in der wir schlechtes Wetter (mehr Regen, Nebel und kühlere Temperaturen) erleben. Außerdem kommt es in der letzten Woche vermehrt zu Reibungen zwischen Captain und Crew. Die Alkohol Vorräte neigen sich dem Ende zu und unser Captain wird von Tag zu Tag unausstehlicher. Nachdem er sich zu Beginn der Reise täglich in der Happy hour (zwischen 17:00 und 18:00) mit Wein, Bier und Spirituosen verwöhnt hatte, ging er in der letzten Woche dazu über, den 4€ Wodka pur zu trinken, der eigentlich für die Fisch-Sterbehilfe vorgesehen war. Als auch dieser ausgetrunken war, beobachte ich den Captain, wie er seine gesamten privaten Vorräte auf den Kopf stellt. Am vorletzten Tag, nachdem sämtliche alkoholischen Getränke ausgetrunken waren, findet er dort noch eine Flasche eines uralten Schaumweines, der den Atlantik wohl schon einige male überquert hat. Natürlich freuen wir uns nach drei Wochen auf hoher See alle, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben aber Joost merkt man in den letzten Tagen eine zunehmende Nervosität und unfreundliche Unausgeglichenheit an weshalb Fede und ich beschließen, unsere Segelreise mit der White Cliffs auf den Azoren zu beenden. Zwar haben sich unter der Crew Freundschaften entwickelt aber noch eine weitere Woche mit einem griesgrämigen Alkoholiker auf zirka 50 Quadratmetern eingesperrt zu sein, ohne Fluchtmöglichkeit, auf das haben wir keine Lust mehr. Und schließlich sind auch die Azoren kein hässlicher Ort. Würden wir weiter segeln, hätten wir überhaupt keine Zeit um diese üppig grünen Vulkaninseln zu besuchen.

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Nach drei Wochen blau in allen Richtungen freuen wir uns sehr über die grüne Abwechslung!

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Der Abschied von drei extrem verschiedenen und einzigartigen Menschen, mit denen wir in den letzten drei Wochen die gesamte Palette an Emotionen durchlebt haben, von Euphorie bis Todesangst, fällt nicht leicht. Aber wir alle nehmen eine unvergessliche Erinnerung an das wohl größte Abenteuer unseres Lebens [bis jetzt… ;-)] mit, das wir gemeinsam durchlebt haben. Danke Manon, Tom und Han für eure Kameradschaft, für eure Geschichten und für euer Lachen. Wir waren ein großartiges Team!

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